Es gibt Tage, die vergisst man nie: Für manche Menschen ist es der Hochzeitstag, für andere der Tag der Scheidung (meiner wird – endlich – in zwei Wochen sein), wiederum andere haben bestimmte Feiertage, die sie zu ihren ganz persönlichen Höhepunkten machen. Weihnachten zum Beispiel: Wenn in der Kirche Mobiltelefone klingeln, dann sind es genau diese Menschen, für die es zum Höhepunkt des Jahres einfach dazugehört, den Gottesdienst zu besuchen – unabhängig von der Frage des Glaubens.
In Liberia gehört der Tubman-Day zu den absoluten Höhepunkten, und der ist heute. Tubman war Präsident von Liberia und der letzte, der vor dem Bürgerkrieg frei gewählt w3-Ghanta-1 011-kleinurde. Dafür war Präsident Tubman der erste in einer langen Reihe von Präsidenten, die von ihren jeweils direkten Nachfolgern nicht nur aus dem Amt geputscht, sondern dabei auch gleich ermordet wurden. Auch eine Möglichkeit der Prävention von Bürgerkriegen, wenn auch eine äußerst zweifelhafte. Ich stelle mir gerade vor, wenn Gauck den Wulff oder Merkel den Schröder – aber lassen wir das lieber.
An jedem 29. November wird Tubman-Day gefeiert, in diesem Jahr ein Donnerstag, doch für Saturday – auf Deutsch Samstag – war heute der große Tag. Saturday ist ungefähr 23 Jahre alt. Genau weiß er dies nicht – nur, dass er kurz vor dem Krieg geboren wurde. Mit einigem Nachdenken könnte man den Wochentag seiner Geburt erschließen.
Dass Saturday viel älter aussieht, liegt daran, dass er seit mindestens zehn Jahren an Lepra leidet, sein Gesicht ist längst von der Krankheit entstellt. Eine Schule hat er nie besucht – wie auch während dieses grausamen Kriegs, einen Arzt nie gesehen und sein Dorf nie verlassen – was ja Voraussetzung für den Arztbesuch gewesen wäre, denn der nächste ist in Monrovia rund 30 Kilometer entfernt.
Jetzt sitzt er wie ein Häuflein Elend bei den italienischen Nonnen in der Nähe des Flughafens und wartet auf den Transport nach Ghanta. Englisch versteht er nicht, nur Bassa, die Sprache seines Stammes. Er weiß nicht, was ihn erwarten wird. Nur, dass wir ihn mitnehmen werden – aber das ist ungewohnt für Saturday. Zum Glück kümmert sich Dr. Pieter de Koning rührend um ihn, unser Fahrer Sam kann übersetzen.
Erstmals hellt sich Saturdays Blick etwas auf, als er von Pieter erfährt, dass er in einem Jahr wieder ganz normal aussehen wird. Die Geschwüre im Gesicht werden dann verschwunden sein, auch seine Hände wird er wohl wieder richtig benutzen können. Doch davor liegen nicht nur zwölf Monate Therpie, sondern erst Mal hier und heute knapp 250 Km Fahrt – in Liberia außerhalb der Hauptstadt bedeutet das zwischen sechs und acht Stunden. Saturday hatte wohl noch nie einen aufregenderen Tubman-Day.
Bei den Pausen traut er sich zunächst gar nicht aus dem Auto – schließlich ist er es gewohnt, wegen seines Aussehens angefeindet zu werden. Erst später geht er mit uns aus dem Fahrzeug – wohl wissend, dass wir ihn davor schützen können und werden. Und erst später fällt mir ein, dass Saturday ja noch keine Therapie begonnen hat und erst ab diesem Zeitpunkt ist Lepra nicht mehr übertragbar.
Doch ich bereue keine Sekunde, in der ich ihm die Hand gehalten oder ihn in den Arm genommen habe. Allein die Hoffnung, nun nicht mehr herumgestoßen zu werden, hat diesen eigentlich so fröhlichen Menschen wieder lächeln lassen. Und Dr. Pieter beruhigt mich, denn die Wahrscheinlichkeit, mich ausgerechnet am Tubman-Day bei Saturday angesteckt zu haben, ist ungefähr genau so groß wie das eines Schweigegelübdes von Claudia Roth.
Endlich in Ghanta angekommen wird auch mein Kaffee-TraumaGhanta-2 281-klein vom Tag der Anreise besiegt: Frischer Espresso, kredenzt von den italienischen Schwestern, steht dampfend vor mir auf dem Tisch. Ich wusste es, es gibt doch noch Gerechtigkeit. Und eine Kaffee-Kultur, die hoffentlich nie untergehen wird. Nach der Stärkung mit Minnestrone, Pizza, Kochbananen und allerlei Früchten aus dem eigenen Garten nutze ich noch den Donnerstagabend, um Saturday zu besuchen. Er hat sich bereits mit Bonjour angefreundet: ähnliche Geschichte vor einem halben Jahr aus Saturdays Nachbardorf.
Ich weiß also unseren Tubman-Day-Ehrengast ebenso in den besten Händen wie meinen Magen, und könnte jetzt eigentlich beruhigt zu Bett gehen, müsste ich nicht noch diese Geschichte aufschreiben. Und zwar schnell, denn Strom gibt es hier nur zwischen 18.30 und 22.00 Uhr. Das muss reichen, also gibt es erst Morgen mehr über die Arbeit im Norden Liberias, am Tag nach meinem Tubman-Day.