Es soll ja Menschen geben, die mit nichts zufrieden sind, so rein überhaupt nichts. Schlafen sie in einem luxuriösen Hotel, finden sie selbst dort noch etwas zu meckern. Matratze zu hart, Matratze zu weich, ein Sender im TV-Programm fehlt, den man sich doch jetz6-Field Trip-2 323-kleint unbedingt anschauen wollte, obwohl man diesen noch nie gesehen hat und wohl nie wieder sehen will noch wird.
Ich kann guten Gewissens versichern: Im Osten des liberianischen Bundesstaats Nimba wird man solche Nörgler nicht finden. Hier, direkt an der Grenze zur Elfenbeinküste, ist das Armenhaus Liberias – ein Land, das ohnehin nicht gerade für Reichtum bekannt ist. Obwohl selbst arm, haben die Menschen noch zahlreiche Flüchtlinge aus der Elfenbeinküste aufgenommen. Dort begann der Bürgerkrieg, der zum „Exportschlager“ wurde: erst nach Liberia und von dort aus nach Sierra Leone. Die Warlords waren immer auf der Suche nach Macht, Reichtum und neuen Rekruten. Wer diesem Wahnsinn entkommen wollte, war in der Region um Butlo gut aufgehoben. Kaum eine größere Truppe hat sich in dieses entlegene Gebiet verirrt. Und wenn doch, war der dichte Urwald das beste Versteck. Beherrschbar ist diese Region nicht – ein Grund für die Menschen hier, glücklich leben zu können.
Noch mehr Gründe: Hungern muss hier niemand, das Essen liefert der Busch frei Haus. Etwas Reis, Gemüse oder Cassava anbauen, dazu ein paar Früchte aus dem Wand holen, für Feiertage Affen oder Flughunde – „Buschfleisch“ – jagen, oder einfach ein Huhn oder eine Ziege schlachten. Und für die wenigen Dinge, für die man doch Geld benötigt, verkauft man halt ein paar Kakao- oder Kaffeebohnen, die hier ebenfalls überall wachsen.
„No power“, antwortet der Town-Chief von Blamreplay auf die Frage, warum die Menschen hier trotz ihrer Armut glücklich sind. Nein, Kraft haben sie genug, er meint „electric power“, also Strom. Der Betrieb einer Taschenlampe oder eines Radios per Batterie ist schon das höchste der elektrischen Gefühle. Wenn überhaupt, gibt es pro Dorf höchstens einen Generator, der Strom für einen Kühlschrank und einen Fernseher produziert. Das ist wichtig an jedem Wochenende, wenn die Fußballspiele übertragen werden.
Abgesehen davon ist die Konsumgesellschaft von Blamreplay und den Dörfern der Umgebung etwa so weit entfernt wir eine Diät von Sigmar Gabriel, Niveau von RTL 2 oder der Waldorfkindergarten von Patrice Winskowski (Fans des EHC Troisdorf haben das dafür notwendige Insiderwissen). Wer etwas kauft, dann nur, weil er es wirklich benötigt. Und so ist es in allen Dörfern, die wir heute besuchen.
John hat ein Team aus mehreren Volunteers zusammengestellt, die heute mit uns auf die Reise gehen. Insgesamt sieben Personen in einem LandCruiser über holprigste Pisten. Aber wir wissen schließlich, warum wir das machen: In jedem Dorf schwärmen die Volunteers aus, um sich ungewöhnliche Flecken auf der Haut zeigen zu lassen. Angekündigt im lokalen Radio und zusammengerufen vom jeweiligen Chief, vor dessen Haus wir das Auto abstellen.
Es dauert ohnehin nie lange, bis die Kinder sich zuerst versammeln, um den „Babba“ zu begutachten und kurz danach ein kräftiges BVB zu singen. Es funktioniert. Mit den Kindern kommen dann auch die Erwachsenen, und so können wir alle überprüfen. Geschulte Blicke, Prüfung der Sensibilität und wenn etwas verdächtig erscheint, gibt es Arbeit für John. Und heute gibt es viel Arbeit: Insgesamt zehn bislang nicht entdeckte Leprakranke finden wir, die allesamt sofort ihre erste Tablette der mindestens sechsmonatigen Therapie bekommen. Die weitere Einnahme werden die Volunteers überwachen.
So glücklich, wie diese Menschen ansonsten auch leben, so ungenügend ist ihre Versorgung im Gesundheitsdienst: Für die fast 100.000 verstreut lebenden Menschen der gesamten Region gibt es nur ein Hospital, also was sich hier halt „Hospital“ nennen darf. Das wird von einem staatlichen Gesundheitsmitarbeiter aus Monrovia betrieben, der jedes Wochenende und auch manch ganze Woche in seiner Heimat verbringt. Wer schwerkrank nach einer Reise von einem oder gar zwei Tagen genau dann dort ankommt, steht halt vor verschlossener Tür.
Mit mehreren Dank-Hühnern im Wagen kommen wir abends zurück nach Blamreplay, mit 4.000 Einwohnern so etwas wie das wirtschaftliche Zentrum der Region. Begleitet vom Südtribünen-Fangesang der Kinder (ja, es funktioniert wirklich) sind wir beim Town-Chief eingeladen zu einer gemeinsamen Portion Reis mit Hühnchen – sehr frisch, versteht sich.
„Wir haben alles, was wir brauchen. Und was wir nicht kennen, brauchen wir auch nicht“, so die weise Antwort auf meine Frage nach der Ursache für das glückliche, obwohl sehr arme Leben. Im Gegensatz zu den Städten gebe es hier keinen Neid und demnach auch keine Kriminalität, nur glückliche Menschen mit sehr vielen Kindern, er selbst habe gleich zwölf davon. „Warum so viele?“ will ich natürlich wissen und bekomme eine einfache, aber plausible Antwort: „No TV.“