Jeder, der die Welt bereist, sollte zumindest ein Buch von Hemingway gelesen haben, heißt es oft an den Flughäfen dieser Welt. Zumindest die Auslagen der Buchhändler weisen eindeutig darauf hin, liegen seine – unbestritten hervorragenden – Bücher doch stets so präsent in den Auslagen, dass man fast zwangsläufig eines mitnehmen will. „Der alte Mann und das Meer“ scheint dabei wohl die interne Flughafen-Bestsellerliste mit großem Abstand anzuführen. Ngom mit Enkelkindern
Mag sein, dass der ein oder andere Leser gerade dieses Buch nicht gelesen hat, aber zur Erinnerung an die Geschichte reicht ja schließlich auch der Film aus den Zeiten, als die wirklich großen Schauspieler noch wirklich schauspielern können mussten und nicht nach Massentauglichkeit gecastet wurden. Anthony Quinn hat den alten Mann, das Meer sich selbst gespielt.
Zur Oscar-Verleihung erschien aber glücklicherweise nur der Mann, der als großer Grieche so elegant den Zorbas getanzt hat, das damals noch niemand außerhalb der hellenischen Weltkugel an Fakelakis denken mochte. Wer beides kennt, das Buch und den Film, wird jedenfalls zustimmen, dass diese Besetzung besser nicht hätte gemacht werden können und weiß, dass es heutzutage zwar Neuverfilmungen von fast allen schlechten Werken der Filmgeschichte gibt (allein die gefühlten 1.234 Versionen des Untergangs der Titanic – ich wäre schon beim zweiten mal nicht mehr an Bord gegangen), aber von diesem Film wird es in absehbarer Zeit wohl kein Remake geben: Wer soll das Meer denn noch so traumhaft realistisch spielen können, nachdem BP es völlig verdreckt hat?
Gestern auf der Fahrt vom Süden nach Kaolack haben wir nicht nur eine liebreizende Fähre benutzt, sondern auch einige Hilfsprojekte besichtigt. In einem Lepradorf haben sich die Bewohner zu einer Genossenschaft zusammengeschlossen. Sie verarbeiten und verkaufen Cashew-Nüsse, auf Deutsch: pures Hüftgold, aber wie alles, was Freude bringt, eine Sünde wert! Ehrbares Handwerk war das und höchst interessant, doch heute treffe ich einen Menschen, der als erster Leprapatient überhaupt unter die Buchautoren gegangen ist. Zumindest ist er der erste Autor und damit der erste in der Öffentlichkeit bekannte Mensch, der dazu steht, dass er an Lepra erkrankt war – Montgomery Burns, der senile Besitzer eines Kernkraftwerkes in Springfield, zählt hier nicht: Er bezeichnet seine Altersflecken nur als Lepraflecken, damit niemand Rückschlüsse auf sein Alter ziehen kann.
El Hadji Ngom jedenfalls war wirklich an Lepra erkrankt und lebt seit 50 Jahren im Lepradorf Koutal – dort, wo vor knapp einem Jahr das Hochwasser in der Regenzeit so viele der alten Hütten zerstört hatte. Da war sein Manuskript bereits fertig, sonst hätte er mit Sicherheit ein weiteres Kapitel hinzufügen können. Während die große Hauptstraße und das größere Nachbardorf nicht vom Hochwasser betroffen waren, liegt Koutal in einer Senke und so traf es diese Hütten mit voller Wucht.
Umgeleitete Wasserströme der „lieben“ Nachbarn und die große Straße trugen dazu bei, dass die Fluten noch verstärkt waren. Viele Hütten wurden zerstört in dem ohnehin schon armen und entrechteten Dorf. Das mit den Rechten ist auch so eine Sache: Seit über 30 Jahren gibt es in Senegal ein Gesetz, dass den Einwohnern der Lepradörfer, die damals ja nicht freiwillig dort hin gezogen waren, Bürgerrechte vorenthält. Im Gegenzug erhielten sie steuerliche Vorteile, aber was nutzen die schon, wenn das Einkommen der Entrechteten so gering ist, dass es manchmal nur für eine Mahlzeit am Tag reicht?
Ngom jedenfalls ficht das alles nicht an: Er habe irgendwann beschlossen, dass die Anfeindungen, die Diskriminierungen, die Beleidigungen und Entwürdigungen ihn nicht mehr erreichen können – einfach so! Er habe seine Seele vor der Lepra verschlossen und lasse dort nur noch gute, schöne Dinge hinein. „Lepra hat meine Seele nicht berührt“, heißt dann auch die Geschichte seines Lebens, die bislang leider nur in französischer Sprache erschienen ist.
Aus den wenigen Geschichten, die mir Ngom erzählt, wird mir schnell klar, dass ich diese Geschichte unbedingt lesen muss. Zu interessant sind die Erlebnisse dieses alten, weisen Mannes. Gespannt sitzen wir um ihn herum im Kreise seiner liebsten Freunde im „Pavillon“ – dem Altersheim des Lepradorfes. Menschen, die hier leben, sind durch die Krankheit so stark behindert, dass sie nicht mehr selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können.
Dies ist der Ort, an dem Ngom’s beste Freunde leben und der wie geschaffen ist für eine Lesung aus seinen Buch – auch, wenn es in diesem Fall eine Erzählung ist, weil er nicht ablesen muss. Immer an seiner Seite sind einige seiner vielen Enkelkinder, die wie gebannt an seinen Lippen hängen und nie genug bekommen können von den aufregenden Geschichten. So tragen diese Geschichten auch dazu bei, dass die Kinder im Pavillon ständig ein- und ausgehen. In Deutschland habe ich noch nie ein so lebendiges und von jüngeren Menschen so gut frequentiertes Altersheim gesehen.
Hoffentlich findet sich ein Verlag, der das Buch auch auf Deutsch herausgibt, ansonsten muss ich in Ermangelung französischer Sprachkenntnisse warten, bis die Geschichte verfilmt wird. Allerdings glaube ich, dass hier das gleiche Problem auftauchen wird wie beim Meer: Wer soll in diesem Film denn nur die gute Seele spielen, die sich gegen die dummen Anfeindungen und Vorurteile zur Wehr setzt? Sir Peter Ustinov weilt leider nicht mehr unter uns.